Ein Gastartikel von Annika Grunert

In den 70er-Jahren hat der japanische Chiropraktiker Kenzo Kase spezielle Klebestreifen entwickelt: Die sogenannten Kinesiotapes sollen eine gesundheitsfördernde Wirkung erzielen, indem sie den Bewegungsablauf und Bewegungsapparat unterstützen. Anfangs kam das kinesiologische Taping nur bei Menschen zum Einsatz, mittlerweile hat es sich auch in der Behandlung von Tieren etabliert. Die Fachtierärztin für Physiotherapie und Rehabilitationsmedizin Dr. Sabine Mai hat jahrelange Erfahrung im kinesiologischen Taping von Pferden und Hunden. Im Interview gibt sie einen Einblick in diese Technik.


Inhaltsverzeichnis:


Wann setzen Sie auf Kinesiotapes, was sind die Indikationen?

Ich verwende die Kinesiotapes bei Hunden entweder postoperativ in der Rehabilitation oder bei Sporthunden im Training, und zwar immer dann, wenn ich denke, dass ich den Bewegungsablauf in Kombination mit bestimmten Übungen verbessern kann. Mit den Kinesiotapes mache ich den Hund auf die Muskelpartie aufmerksam, die ich gerne bearbeitet haben möchte.

Im Endeffekt tue ich nichts anderes als dass ich die elastischen Pflasterstreifen je nach Technik mit einer bestimmten Spannung sowie in einer bestimmten Richtung auf das Fell klebe und dann lasse ich den Hund sich damit bewegen. Die Rückmeldungen, die das Tape über die Haut, das Fell und über die Bewegungsmelder an den Hund weitergibt, verändern die Muskelspannung, den Bewegungsablauf sowie die Körperhaltung und überschreiben einen großen Teil der Schmerzweiterleitung.

Bei Hunden gibt es viele verschiedene Felllängen und -qualitäten: Können die Kinesiotapes trotzdem bei jedem Hund funktionieren?

In der Tat kommt man bei einigen Hunden nicht dorthin, wo man hinkommen möchte, wie beispielsweise bei denen, die viel Unterwolle haben. Also der Einsatz von Kinesiotapes ist sicher keine Technik, die bei jedem Hund wirkt, aber es ist immer einen Versuch wert. Es gibt viele Haarqualitäten, auf denen die Tapes wirklich gut haften bleiben – bis zu fünf Tage. Die Hunde dürfen allerdings nicht frisch gebadet oder mit einem Pflege- oder Körperspray eingesprüht sein. Wenn ein Funken Silikon enthalten ist, habe ich keine Chance – die Tapes halten nicht. Man kann es also schlecht vorhersagen sondern muss es stattdessen ausprobieren.

Beim kinesiologischen Taping bei Tieren geht es im Endeffekt darum, dass ich in der Bewegung an den passenden Haaren zupfe, um die Propriozeptoren an den Haarwurzeln zu reizen. Also die Tapes müssen nicht an die Haut kommen, sondern nur auf dem Fell kleben.

Bleibt das Kinesiotape beim Tier solange dran, bis es herunterfällt, oder nimmt man es irgendwann wieder ab?

Eine Möglichkeit ist, dass das Tape so lange dranbleibt, wie es eben von allein dranbleibt. Bei Welpen und bei Hunden, die alles herunterrupfen und fressen, möchte ich hingegen, dass sie nur unter Aufsicht getapet sind. Sie absolvieren damit ihr Training in der Hundephysiopraxis, im Unterwasserlaufband oder auf dem Hundeplatz und anschließend kommt das Kinesiotape wieder ab.

Der allererste Hund, den ich getapet habe, hat sich nach zwei Minuten das Tape heruntergezogen und gefressen. Die Besitzerin wollte dann von mir wissen, ob das einen Darmverschluss verursachen kann, was ich nicht mit Sicherheit beantworten konnte. Das Risiko gehe ich nicht mehr ein.

Wie lange das Kinesiotape haften bleibt, spielt aber keine große Rolle. Entweder versuchen wir über eine veränderte Bewegungserfahrung Bewegungsprogramme leicht anzupassen oder ich möchte die Durchblutung und die Schmerzhaftigkeit eines Triggerpunktes verändern: In beiden Fällen bedarf es keiner endlosen Einwirkzeit.

Wie lange und wie oft kommen Kinesiotapes bei Tieren zum Einsatz?

Man kann keine allgemeingültige Aussage treffen: Es ist von Fall zu Fall unterschiedlich. Wenn ich mit meinem Hund dreimal pro Woche auf dem Hundeplatz an einer bestimmten Problematik arbeite, zum Beispiel an einer schnellen Wendung um den Kegel, dann ist es kein Problem, den Hund für jedes Training zu tapen. Wenn ich einen Hund mit Spondylose habe, der das Unterstützen der Rückenmuskulatur als angenehm empfindet, dann würde ich das Tape gerne länger aufgeklebt lassen: wenn möglich fünf Tage, zwei Tage Pause und dann wieder tapen. Also der Hundephysiotherapeut entscheidet das je nach Einzelfall.

Was sind die Kontraindikationen (Umstände, die eine Maßnahme verbieten) des kinesiologischen Taping bei Tieren?

Zu den Kontraindikationen gehören ganz sicherlich alle Unverträglichkeiten mit der Haut. Also wenn ich einen kleinen weißen Hund habe, der ein schwerer Atopiker* ist und gerade in einem Allergieschub steckt, dann muss ich sehr vorsichtig sein. Es gibt Hunde, die rasch unruhig werden und versuchen, das Tape abzunehmen: Das ist ein mögliches Anzeichen dafür, dass der Hund allergisch reagiert. Also auch da heißt es Vorsicht.

Das Kinesiotaping ist sicher eine regulative Methode, das heißt, die Kontraindikationen sind nicht so wahnsinnig zahlreich. Ich lasse die Finger von allen Erkrankungen, bei denen Tumore im Spiel sind, egal ob Mastzellentumore oder andere Tumorerkrankungen. Ich möchte nicht die leiseste Idee davon haben, dass ich eventuell an einer Metastasierung oder Verschleppung der Tumorzellen mitverantwortlich bin. Beim kinesiologischen Taping gibt es Techniken, die den Lymphfluss anregen, und da sollte man sich schon sehr sicher sein, dass keine Tumorerkrankungen vorliegen. Genauso muss bei den Lymphtechniken klar sein, dass keine eitrigen Entzündungen vorliegen, denn auch hier besteht die Möglichkeit, Keime metastatisch zu verschleppen.

Oft ist zu lesen, dass die Kinesiotapes für Tiere sehr hautverträglich wären, wie ist Ihre Erfahrung?

Auf der Unterseite der Kinesiotapes haftet ein Acrylkleber und jedes Produkt hat eine andere Konzentration. In meinen Seminaren tapen wir zuerst am Menschen und es gibt immer eine Person, die darauf allergisch reagiert. Für Hunde sind die Tapes zwar meist verträglicher, trotzdem muss man das Tier immer genau beobachten, denn eine allergische Reaktion ist natürlich stets möglich.

Wie lange dauert es, bis man eine Veränderung sieht?

Das finde ich immer wieder erstaunlich und beeindruckend: In meinen Seminaren sind oft Hunde dabei, die sich stets mit steifer Wirbelsäule bewegen, der Hund wird getapet und läuft anschließend hüftschwingend durch die Gegend. Also die Wirkung zeigt sich nicht erst nach der beispielsweise sechsten Behandlung, sondern man klebt, man geht und man sieht es sofort. Wenn man keine Veränderung bemerkt, dann ist entweder das Kinesiotape verkehrt angelegt oder die Idee dahinter ist falsch.

Welche Neben- und Wechselwirkungen gibt es?

Mir ist nichts bekannt. Manche Hunde werden nach einem Training mit Kinesiotapes ein bisschen müde. Bei manchen Hunden hat man in den folgenden Tagen das Gefühl, sie horchen in sich hinein. Beides hat damit zu tun, dass sie viele Informationen über die veränderte Körperhaltung verarbeiten. Wechselwirkungen mit anderen Therapieformen oder Medikamenten kenne ich keine. Ich denke, es ist eine relativ ungefährliche Technik. Ich unterrichte und wende viel Akupunktur an, da verhält es sich anders: Jeder, der eine Nadel in der Hand hat, sollte ganz genau wissen, was er tut und was passieren kann. Beim kinesiologischen Taping bei Tieren sage ich: Nimm es und versuch es.

Sie bieten auch Seminare und Webinare im kinesiologischen Taping bei Tieren an, für wen sind die geeignet?

Man muss ein Grundverständnis von der Biomechanik und der funktionellen Anatomie haben. Als Laie herzugehen und zu sagen, ich tape jetzt Tiere, das wird nicht funktionieren. Mein Webinar Kinesiotaping für Hunde bei der Dogtisch Academy ist sozusagen ein Aufbaukurs für Hundemasseure und Hundefitnesstrainer, die haben das benötigte Wissen. Meinen Kunden gebe ich aber eine Rolle Kinesiotape mit nach Hause und zeige ihnen vorher ganz genau, wie sie bei diesem einen Hund in diesem speziellen Fall das Tape verwenden sollen. Denn wenn sie dreimal in der Woche ins Unterwasserlaufband oder auf den Hundeplatz gehen, dann sollen sie den Hund tapen können und müssen nicht jedes Mal vorher zu mir kommen. Das funktioniert super, aber die Entscheidung, welche Technik, wann, wo, wie genau, dafür sollte man schon ein Grundwissen von Biomechanik und funktioneller Anatomie haben.

Die Kinesiotapes für Tiere gibt es in verschiedenen Farben: Was hat es damit auf sich?

Das ist eine persönliche Sache. Man kann an die Farbenlehre glauben oder man kann eben nicht daran glauben. Ich achte darauf, ob das Gewebe warm oder kalt ist. Bei chronischen Erkrankungen, bei denen kein Transport intrazellulärer Flüssigkeiten mehr funktioniert, kriegen die Hunde eher eine warme Farbe, also in Richtung rot-orange. Hunde mit Überlastungsanzeichen, bei denen vielleicht das Gewebe noch warm und angelaufen ist, bekommen eine kalte Farbe, also eher blau oder grün. Außerdem würde ich zum Beispiel ein rosafarbenes Kinesiotape nicht verwenden, wenn der Hundebesitzer ein Mann ist. Also im Gegensatz zu den Therabändern, bei denen die verschiedenen Farben unterschiedliche Spannungen haben, sind die Farben der Kinesiotapes nur unterschiedliche Farben.

Interview-Partnerin

Dr. Sabine Mai hat eine Praxis im österreichischen Gföhl und bietet sowohl klassische Physiotherapie, Akupunktur und Manualtherapie als auch Sportmedizin und Trainingsbegleitung für Hunde sowie Pferde an. Außerdem gibt sie Seminare, Lehrgänge und Workshops in Österreich und Deutschland. Mehr Informationen finden Sie unter: http://physiovet.info/




*Anmerkung: Ein Atopiker neigt dazu, auf normalerweise harmlose Substanzen überempfindlich zu reagieren, also mit einer allergischen Reaktion des Soforttyps.

Foto: © oben: tutye/AdobeStock, unten: Dr. Sabine Mai